Erstellt von Melanie Fox

Anne Gellinek: „Die EU ist eine Kompromissmaschine. Und das ist gut“

Anne Gellinek: „Die EU ist eine Kompromissmaschine. Und das ist gut."
Anne Gellinek: „Die EU ist eine Kompromissmaschine. Und das ist gut."

Kennt - und liebt - die EU: Fernsehkorrespondentin Anne Gellinek. | Foto: Rico Rossival/ZDF

Ganz nah dran: Anne Gellinek berichtet fürs deutsche Fernsehen aus Brüssel. Und was denkt sie selbst über die Europäische Union?

Anfang 2020 sagten Sie: „Es wird ein deutsches Jahr in der EU“; die sechsmonatige Ratspräsidentschaft Deutschlands läuft noch bis Ende 2020, sie sollte „eine Chance sein, die Agenda zu bestimmen“. Jetzt ist die Corona-Pandemie das allumfassende Thema. Wo bleiben der Klimaschutz oder die Flüchtlingsproblematik?

Die Folgen dieser Pandemie zu managen ist sicherlich Thema Nummer 1 der deutschen Ratspräsidentschaft. Beim beschlossenen Konjunkturpaket sollen 30 Prozent der Konjunkturhilfen in den Klimaschutz fließen. Ob das wirklich so funktioniert, hängt natürlich davon ab, welche Konjunkturprogramme die einzelnen Länder vorlegen. Aber beim Klimaschutz bin ich nicht so skeptisch.
Der Vorschlag der Kommission zur Flüchtlingsproblematik dagegen ist wegen Corona schon mehrfach verschoben worden. Das Thema hat dadurch sehr gelitten, ich glaube nicht, dass es bis Ende des Jahres gelöst ist.

Wie kann eine gute, menschliche europäische Politik aussehen?

Man sollte in der Flüchtlingsfrage eine Lösung finden, an der sich alle 27 Staaten beteiligen. Auch sollten alle Ankunftsstaaten im Mittelmeer bereit sein, Flüchtlinge aufzunehmen und zu verteilen. Aber genau das funktioniert nicht. Wie die EU-Kommission mit ihrem Vorschlag alle Länder beteiligen will, ist mir nicht ganz klar. Am Ende wird die wohl einzig praktikable Lösung sein, dass sich einige Länder, gerade in Osteuropa, nur mit Finanzhilfen beteiligen werden. Politik ist ja immer nur das, was machbar ist. Ob diese Vereinbarung dann am Ende hält oder wieder zu Streit führt, weil die einen „nur“ zahlen und die anderen Flüchtlinge aufnehmen, wird man sehen.

Schweißen Krisen Europa eher zusammen oder spalten sie die Gemeinschaft?

Beides. Ein gutes Beispiel ist da die Corona-Pandemie. Zu Anfang hat die Europäische Union keine gute Figur gemacht. Mitgliedsländer haben ihre Grenzen dichtgemacht, nationale Alleingänge beschlossen, Exportbeschränkungen verhängt. Es gab wenig europäische Solidarität.
Die Finanzverhandlungen danach zeigten aber den Versuch, der Europäischen Union einen Schub zu geben, die Krise gemeinsam zu bekämpfen. Ob dies gelingen wird, kann man jedoch heute noch nicht sagen. Das Konjunkturpaket lässt zumindest hoffen, dass sich die Europäische Union auf ihre Werte besinnt. Die Pandemie hat die Bruchstellen gezeigt, die es immer gegeben hat, aber möglicherweise macht die Europäische Union auch einen Schritt nach vorne.

Wie kann dieser Schritt aussehen, was ist für Sie typisch europäisch?

Die Suche nach einem Kompromiss. Liberalität, Offenheit und Toleranz. Aber eben keine Einstimmigkeit, sondern ein diverser Chor, der durchaus auch Missstimmungen bedeutet. Aber am Ende ist die Europäische Union eine Kompromissmaschine. Und das ist gut.

Ende 2020 tritt Großbritannien endgültig aus der EU aus. Welche Risiken und welche Chancen sehen Sie für Europa?

Wirtschaftlich gesehen ist es ein großes Risiko, besonders für die Briten. Der Brexit hat die Europäische Union zurückgeworfen, da er unheimlich viel Kraft gebunden hat und immer noch bindet. Über Medikamente, Flugrechte, Finanzdienstleistungen, nukleare Sicherheit bis zu Zöllen, um nur einige Punkte zu nennen, musste verhandelt werden. Wenn man die gleiche Energie für den Klimaschutz eingesetzt hätte, wäre man da sicherlich schon sehr viel weiter. Ich denke, der Brexit hat aber auch als heilsamer Schock gewirkt. Viele Menschen in der EU haben gesehen, was die Union alles leistet. Dadurch hat manch einer den Wert dieses Bündnisses auf eine neue Weise zu schätzen gelernt.

Worauf kann Europa stolz sein?

Dass es bisher noch immer gelungen ist, einen Kompromiss zu finden. Wenn 27 Stimmen zu den ganz unterschiedlichsten Fragen unter einen Hut gebracht werden können, dann ist es ein großer Wert! Es ist mitunter schwierig, die Geduld mit Europa zu behalten, auch als Berichterstatterin. Aber es ist immer besser, den Kompromiss zu finden, als zu sagen, wir rennen in 27 verschiedene Richtungen.

Mehr Fragen und Antworten lesen Sie in unserer Zeitschrift.

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Zur Person

Anne Gellinek, 58, leitet seit 2015 das ZDF-Studio in Brüssel und ist damit zuständig für die Berichterstattung über die Europäische Union, die europäischen Gerichte, die NATO und die Benelux-Staaten sowie aus dem Europaparlament.

Nach ihrem Studium der Slavistik, Osteuropäischen Geschichte und Publizistik in Münster und Moskau absolvierte sie ein Volontariat beim ZDF, ging für ein dreimonatiges Stipendium in die USA, moderierte die Frühausgabe des „ZDF-Morgenmagazins“ und arbeitete als Korrespondentin in den ZDF-Studios in Moskau und Berlin.

Anne Gellinek ist verheiratet und hat eine Tochter.

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