Erstellt von Roger Tinner

Wüstenwoche in der Stadt

Wüstenwoche in der Stadt
Wüstenwoche in der Stadt

Vorbild Wiborada (links): Theologin Hildegard Aepli in ihrer eigens eingerichteten Klause im schweizerischen St. Gallen (rechts) | Fotos: Ralph Ribi

Warum sich zehn Schweizerinnen und Schweizer in eine ganz besondere Klausur begaben

Hildegard Aepli war die Erste, die sich wegsperren ließ. In einer eigens errichteten Klause mitten in St. Gallen. Eine Woche lang. Damit wollte die 58-Jährige dem Leben der heiligen Wiborada nachspüren, die sich 916 bei der Kirche St. Mangen auf Lebenszeit hatte einschließen lassen. Durch ein Fenster hielt sie damals Verbindung zur Welt und wurde für Klerus, Adel und Volk eine wichtige Ratgeberin.

Neun weitere Frauen und Männer zwischen 33 und 86 Jahren taten es Aepli – und Wiborada – nun gleich. Ihr Ziel: in der Nachfolge der Heiligen zu zeigen, „dass Selbstverwirklichung und Spiritualität zusammengehen“ (Aepli). Jeden Tag öffneten die Inklus*innen kurz ihr Fenster, um mit den Menschen außerhalb ihrer Klause in Kontakt zu kommen. Dabei gab es einmalige Begegnungen, wie Hildegard Aepli erzählt: „Einige Menschen weinten am offenen Fenster schon bei meinem Anblick. Eine Freundin sagte: Ich will, dass du immer da bist. Und herzzerreißend waren die vielen Anliegen, die zu mir gelangten.“

Rückzug und Ausgesetztheit zugleich sei es gewesen: „Fenster nach innen und Fenster nach außen. Eine Woche ins schlichte Dasein vor Gott finden und gleichzeitig am offenen Fenster die Welt ohne Wahl an sich he­rankommen lassen.“

Auf manche mag diese Aktion religiös fundamentalistisch wirken. Tatsächlich meinte ein reformierter Seelsorger: „Diese Spiritualität haben wir doch überwunden.“ Heute gehe man für geistliche Übungen doch eher in die Wüste, eine Alphütte oder ins Bildungshaus. Aepli hingegen sagt: „Eine Woche als Inklusin in der Wiboradazelle ist eine Wüstenwoche mitten in der Stadt. Eine unglaublich tiefgreifende, berührende und erschütternde Erfahrung.“

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