Hildegard von Bingen: Wegbereiterin der Naturheilkunde
Beschreibung
Am 17. September ist der Gedenktag der heiligen Hildegard von Bingen (1098–1179). Die Benediktinerinvom Rhein begeistert bis heute als Visionärin, Heilkundige und starke Frau des Mittelalters. Warum das so ist, erklärt Klostermediziner Tobias Niedenthal
‚Leben jetzt‘: Hildegard von Bingen wird heute für Dinge verehrt, die historisch gar nicht eindeutig belegt sind. Warum verdient sie dennoch große Aufmerksamkeit?
Tobias Niedenthal: Hildegard war vielseitig interessiert, talentiert und fantasievoll. Sie hat viel gehört und gesehen. Aus einigen groben Versatzstücken, die sie aus Büchern kannte, hat sie sich eine eigene Welt erschaffen. Sie hatte den Mut, selbst zu denken, Fehler zu machen und auch mal falsch abzubiegen. Sie verknüpfte Philosophie, Theologie und Medizin. Aber sie war auch ein Kind ihrer Zeit, und in diesem Kontext sollten wir auf ihr Leben blicken: Wen hat sie gekannt? Welche Bücher hat sie gelesen? Worin unterscheidet sie sich von anderen?
Lj: Zu Hildegard wird zwar seit Jahrhunderten geforscht, aber selten ganzheitlich, sagen Sie. Was meinen Sie damit?
Niedenthal: Niemand kann sich mit allen Aspekten ihres Lebens umfassend beschäftigen. Ihr vielleicht eigenständigster Beitrag war die Musik. Sie hat 70 bis 80 Lieder und eingroßes Singspiel überliefert. Erst in jüngster Vergangenheit haben sich vor allem Musikhistorikerinnen dieses Werks angenommen. Dem Germanisten Reiner Hildebrandt, der ab den 1990er-Jahren die Naturheilkunde erforscht hat, ging es vor allem um die mehr als 1000 deutschen Wörter für Pflanzen und Krankheiten. Er kannte die deutsche Sprachgeschichte, aber nicht so sehr die damalige Medizin. Ich schaue mir beides an und überlege: Wo hat er recht und wo nicht? In populären Medien wird vieles behauptet, ohne die Fakten zu prüfen.
Lj: Heute ist Dinkel fast ein Synonym für Hildegard – es gibt unzählige Dinkelbackmischungen, Dinkelkaffee, Dinkelnudeln „nachHildegard“. Hat sie Dinkel wirklichso hervorgehoben?
Niedenthal: Hildegard sagt, Dinkel sei ein „gutes“ Getreide, aber das Kapitel ist kürzer als das über Weizen. Semmelmehl, also zerbröselte Brötchen, wird häufiger genannt als Dinkel oder gar Emmer. In ihren Schriften findet sich nur ein einziges Rezept mit Dinkel – eine Suppe mit ganzen Körnern für Schwerkranke.
Lj: Und wie ist es mit dem Fasten? Auch hier gibt es unzählige Kurse und Bücher, die hren Namen tragen.
Niedenthal: Hildegard von Bingen hat nirgends eine Fastenmethode beschrieben. Sie warnt sogar vor übermäßigem Fasten. Ihre Lehrerin und Freundin Jutta von Sponheim hat sich mit Bußübungen selbst zugrunde gerichtet. Davon distanzierte sich Hildegard. Sie schrieb, beim Fasten müsse man aufpassen. Man solle den Sünder nicht überfordern, sonst sei er eine leichte Beute für den Teufel.
Lj: Sehen Sie es kritisch, dass Ihr Name für Marketingzwecke genutzt wird?
Niedenthal: Ja, ich finde das unehrlich. Ich binein großer Freund der Pflanzenheilkunde, aber ich würde nichts einfach ungeprüft aus einem 900 Jahre alten Buch übernehmen. Ich betrachte stets die aktuelle Verwendung und vergleiche sie mit den überlieferten Empfehlungen.
Lj: Eins zu eins übernehmen kann mitunter ja auch gefährlich sein.
Niedenthal: Richtig. Hildegard empfiehlt auch einige Giftpflanzen, die wir heute nicht mehr nutzen. Zudem sind viele Krankheitsbilder bei ihr sehr breit gefasst. Gicht konnte auch Arthrose oder Rheuma oder etwas ganz anderes bedeuten. Manches wurde in den 1970ern vorschnell als Krebs eingeordnet, und dann hieß es, man habe ein Heilmittel gegen Krebs.
Lj: Wie sind die populären Rezepte aus medizinischer und ernährungswissenschaftlicher Sicht zu bewerten?
Niedenthal: Die Rezepte sind sicherlich vielfach gut. Aber sie stammen in dieser Form nicht von Hildegard von Bingen. Sie hat nie Rezepte im modernen Sinn notiert. Man findet bei ihr Empfehlungen wie: „Nimm den Salbei und doppelt so viel Schafgarbe.“ Die Mengenverhältnisse sind klar benannt, aber damals übliche Maßeinheiten wie Unzen, Drachmen oder Skrupel sucht man vergebens. Auch bei den Pflanzen gibt es Probleme: Man weiß oft nicht, welchen Teil sie meint – Wurzel oder Kraut? Sicherheit gibt es bei ihren Empfehlungen leider nicht. Man kann allenfalls Wahrscheinlichkeiten aufstellen.
Lj: Wenn Sie unseren Leserinnen und Lesern einen Gedanken aus Hildegards Werk mit auf den Weg geben dürften – welcher wäre das?
Niedenthal: Entgegen dem radikalen Trend ihrer Zeit hat sie immer zu maßvollem Verhalten geraten. Der Mensch sei ein Mensch – man dürfe nicht zu viel erwarten.
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Tobias Niedenthal - Leiter der Forschungsgruppe Klostermedzin an der Universität Würzburg
Tobias Niedenthal: Pharmaziehistoriker der Forschergruppe Klostermedizin der Universität Würzburg | Foto: privatTobias Niedenthal ist seit 2010 Mitglied der 1999 an der Universität Würzburg gegründeten interdisziplinären Forschergruppe Klostermedizin, die er seit 2019 koordniniert.