„Diesen Kuss der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
muss ein lieber Vater wohnen.“
Natürlich hat man das schon hundertmal gehört, aber wem bei Beethovens „An die Freude“ nicht das Herz aufgeht, dem ist nicht zu helfen. Sind wir etwa nicht einander Brüder und Schwestern, über die ein lieber Vater wacht? Was für ein Glück, dass wir einander haben. Warum zeigen wir das nicht viel öfter? Zum Beispiel mit einer Umarmung? Die berühmte amerikanische Familientherapeutin Virginia Satir hat einmal gesagt, wir brauchen vier Umarmungen am Tag, um zu überleben, und acht Umarmungen, damit wir uns gut fühlen.
Eine Umarmung kann Glückshormone freisetzen, das Wohlbefinden steigern und zwischenmenschliche Konflikte abmildern. Das Herz von Menschen, die sich regelmäßig umarmen, schlägt ruhiger. Menschen mit regelmäßigem Körperkontakt weisen zudem niedrigere Stresshormon- und Blutdruckwerte auf. Der kurze Körperkontakt beeinflusst sogar die Hirnaktivität positiv, stärkt das Denk- und Erinnerungsvermögen, wie Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum herausgefunden haben.
Kostenfreie Umarmungen in der Fußgängerzone
Leider haben gerade ältere Menschen häufig nur körperlichen Kontakt, solange der Partner noch lebt, sagt Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Forschungslabors an der Universität Leipzig. Zwar seien die beruhigenden Aspekte einer kurzen Umarmung bei einer vertrauten Person schneller und stärker, aber auch bei Umarmungen durch fremde Personen könne sich ein Glücksgefühl einstellen. Grunwald begrüßt deshalb Initiativen wie die „Free Hugs“-Bewegung, bei der Fremde auf offener Straße Gratis-Umarmungen anbieten: „Da kommt doch niemand mit verzerrten Gesichtszügen raus. Die Menschen strahlen und sind glücklich.“ Der gebürtige Winterthurer Wolfgang Weber bietet seit 18 Jahren beinah jeden Samstag auf dem Schaffhauser Fronwagplatz kostenlos eine herzliche Umarmung feil. Da wird gelacht, geredet und manchmal fließen sogar Tränen der Erleichterung und Dankbarkeit. Der 73-Jährige ist überzeugt, dass uns Umarmungen, das Innehalten, Sich-Wahrnehmen in besonderer Weise verbinden: „Wir brauchen einander, haben dieselben Bedürfnisse. Wir sind alle gleich.“
Alternativen zu Umarmungen
Wie viel körperliche Nähe jemand braucht, variiert allerdings stark und hängt überdies von der Beziehung und auch von der jeweiligen Kultur ab. Zu einer Pflegekraft muss man erst ein Vertrauensverhältnis aufbauen, damit einem der Kontakt wirklich guttun kann. In Ländern wie Indien, Nepal, Thailand und Japan sind Umarmungen unüblich, stattdessen verbeugt man sich. In Nigeria begrüßen und verabschieden sich selbst Familienmitglieder nur mit einer kurzen Handbewegung – Hello, goodbye – in die Luft.
Es gibt unzählige Möglichkeiten, Zuneigung und Verbundenheit zu zeigen. Daher verbietet sich die Stereotypisierung von „Nicht-Umarmern“ als „verklemmt“, „kalt“ oder „lieblos“ von selbst. Im Zweifel sucht man Augenkontakt, lächelt und reicht ganz bewusst und liebevoll die Hand.