Erstellt von Ulla Arens

Sollen wir wirklich alles verzeihen?

Sollen wir wirklich alles verzeihen?
Sollen wir wirklich alles verzeihen?

Einfordern lässt sich Vergebung nicht. „Sie ist ein Geschenk, das wir freiwillig geben, nicht aus einem falsch verstan- denen Pflichtgefühl“, so Pater Heck SVD. | Foto: iStock

Das verzeih ich Dir nie! - So reagieren wir, wenn wir bitter gekränkt werden. Dabei ist Verzeihen immer noch die beste Medizin bei seelischen Wunden. Aber können und sollen wir alles verzeihen?

Der Schmerz geht einfach nicht weg. Über die Mutter, die einem nicht die Liebe gab, die man gebraucht hätte. Den Mitschüler, der einen mobbte. Den Partner, dessen Lügen aufgeflogen sind. Oder die Kollegin, die in der Chefetage Gerüchte streut.

Wo Menschen miteinander in Beziehung treten, entsteht Reibung. Wir verletzen und werden verletzt. Manchmal leider mit Vorsatz, manchmal aus Gedankenlosigkeit. Aber immer greifen solche Kränkungen unser Selbstwertgefühl an und können so schwer wiegen, dass wir auch nach Jahren und Jahrzehnten nicht von unserem Groll lassen können. Und oft auch gar nicht wollen: dem anderen verzeihen? Kommt überhaupt nicht infrage!

So verständlich der Groll und die schwelende Wut auch sein können – wäre es nicht entlastend, zu verzeihen und damit diese Gefühle hinter sich zu lassen? Ja, meint Pater Thomas Heck SVD, Geistlicher Leiter im Centro Ad Gentes in Nemi bei Rom. „Wenn ich nicht verzeihe, füge ich mir selbst Schaden zu.“ Und: Vergebung steht im Zentrum unseres Glaubens. Als Petrus fragt, wie oft er seinem Bruder vergeben muss, lautet die Antwort Jesu: „Nicht 7-mal, sondern 77-mal.“ Das bedeutet so viel wie: immer. Was für eine Herausforderung!

Eva Kor hat sich dieser Heraus­forderung gestellt. Sie ist eine Auschwitz-Überlebende, wurde als Kind mit ihrer Schwester von Josef Mengele für Zwillingsversuche missbraucht, ihre Familie im KZ ermordet. Im hohen Alter vergab sie einem ehemaligen SS-Mann im Rahmen eines Gerichtsverfahrens. Eine schier übermenschliche Geste. Man versteht sie besser, wenn man weiß: Eva Kor tat es nicht für den Angeklagten, das hat sie ausdrücklich betont. Sie tat es für sich selbst – weil sie kein Opfer sein wollte.

Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Für die Heilung müssen wir selbst aktiv werden. „Wir müssen aufhören nachzutragen, sonst bleiben wir wie mit einem Strick an den Täter gefesselt“, so Pater Heck. „Er behält die Macht.“ Die Wunde, die er uns zufügte, kann nicht heilen, der Schmerz wird uns immer wieder einholen. Und er kann sogar krank machen. „Nur wenn wir uns von der Vergangenheit lösen, die Bitterkeit hinter uns lassen, werden wir frei.“

Um Missverständnisse zu vermeiden: Eva Kor hat den Täter durch ihr Verzeihen nicht aus seiner Verantwortung entlassen. Sie meinte nicht „Schwamm drüber“. Unrecht bleibt Unrecht. Verzeihen ist kein Freibrief für den Täter, rechtliche Schritte werden nicht überflüssig. Ob man jemandem, der einen verletzt hat, eine zweite Chance gibt – das gehört nicht automatisch zum Verzeihen: Eine schwere Kränkung kann man verzeihen – und trotzdem nichts mehr mit dem zu tun haben wollen, von dem sie kam.

Einfordern lässt sich Vergebung nicht. „Sie ist ein Geschenk, das wir freiwillig geben, nicht aus einem falsch verstandenen Pflichtgefühl“, so Pater Heck.

Doch längst nicht jeder hat so ein Geschenk verdient, schreit unser Gerechtigkeitsempfinden. Manche Taten wiegen so schwer, dass sie unverzeihlich sind. „Für uns Menschen ist die Grenze des Verzeihbaren dort, wo wir unsere Identität, unsere Selbstachtung aufrechterhalten wollen“, sagt Pater Heck.

„Schlimmste Vergehen können wir aus eigener Kraft und Liebe kaum verzeihen. Wer sich jedoch mit der unendlichen und allumfassenden Liebe Gottes verbindet und aus ihr schöpfen kann, wird vielleicht eines Tages fähig dazu sein. Auch gegenüber Menschen, die es unserer Meinung nach nicht verdient haben.“

Aber im Schmerz ist längst nicht jeder offen für diese Liebe. Und überlässt die Gerechtigkeit der Justiz und das Vergeben Gott.

Und wenn wir uns entschieden haben zu verzeihen – wie geht das eigentlich? Wir brauchen Zeit und Geduld, mit einer Absichtserklärung ist es nicht getan. Wagen wir vielmehr den Versuch eines Sinneswandels, lassen den Groll hinter uns, geben die Vorwurfshaltung auf, tragen nicht mehr nach. Selbst wer letztlich nicht verzeihen will, sollte diesen Sinneswandel ausprobieren, um das Geschehene zu verarbeiten und sich von den bedrückenden Gefühlen zu befreien. „Darum müssen wir ringen, immer wieder“, so Pater Heck.

Ein oberflächliches, vorschnelles Verzeihen nach dem Motto „alles gut“ hilft uns dagegen nicht weiter. Voran geht es dagegen, wenn „wir uns die Verletzung, den Schmerz, die Wut eingestehen und dann anschauen. Tut das zu weh, kann man sich dazu Hilfe holen, bei einem Freund, einem Priester, einem Therapeuten.“ Ein genauerer Blick auf den „Täter“ ist ebenfalls notwendig.

„Es gilt, zwischen der ­Person und ihrem Verhalten zu unterscheiden“, schreibt die Philosophin, Theologin und Ordensschwester Dr. Melanie Wolfers aus Wien in ihrem Buch „Die Kraft des Vergebens“. „Vergebung ignoriert die Tat nicht, aber sie beginnt auch nicht bei der Tat, sondern bei dem Menschen, der sie begangen hat.“

Vielleicht hat die als kalt erlebte Mutter durch erlittene Traumata nie gelernt, Liebe zu zeigen. Vielleicht stand die mobbende Kollegin beruflich stark unter Druck.

Außerdem: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Stand der Freund einem nicht zur Seite, als man ihn dringend gebraucht hätte, hilft ein klärendes Gespräch, in dem man dem anderen klarmacht, wie verletzt man ist. Verzeihen gelingt leichter, wenn das Gegenüber um Entschuldigung bittet. Doch Vergeben kann auch ohne das gelingen und sogar ohne den Täter, der vielleicht ja gar nicht mehr am Leben ist. Da helfen symbolische Akte, schlägt Melanie Wolfers vor: „Sich seine Gedanken und Gefühle von der Seele schreiben. Den Brief verbrennen, der mich verletzt hat. Dem Verstorbenen, mit dem ich mich aussöhnen will, eine Blume aufs Grab legen oder ihm eine Kerze anzünden.“

Mit der Zeit wird sich dann – hoffentlich – die schmerzende Wunde schließen. Dann können wir endlich, wie Melanie Wolfers es formuliert, „aufhören, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen“.

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