Erstellt von Ulla Arens

Geschichten vom Abschied: Dem Krieg in der Ukraine entkommen

Die Ukrainerin Nataliia Kolesnyk lebt nun in Deutschland
Nataliia Kolesnyk ist vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland geflohen

Sie vermisst ihre Familie, ihre Heimat. Doch ein Zurück ist noch nicht möglich. | Foto: Selina Pfrüner

Im Februar vergangenen Jahres begann der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Nataliia Kolesnyk, 54, erzählt von ihrer Flucht nach Deutschland – und vom Abschied von ihren Eltern

Hausschuhe und Schlafanzug. Das war alles, was Nataliia Kolesnyk in der Eile einpackte. Nur 15 Minuten hatte sie Zeit, bis das Auto kam, um sie aus Charkiv hinauszubringen. Weg von den Bomben, Explosionen, Flugzeugen. Der Todesangst entkommen, die sie beherrschte. „Ich wollte leben. An etwas anderes konnte ich nicht denken“, sagt die 54-Jährige bei einem Treffen in einem Kölner Café.

„Anfangs begriff ich nicht, was meine Freundin meinte, als sie anrief und sagte, es sei Krieg. Ich konnte es nicht glauben.“ Dann fielen die Bomben auf ihre Heimatstadt Charkiv, nahe der russischen Grenze. „Über 90 am Tag. Erst das Pfeifen, dann dieser gewaltige, furchtbare Knall.“ Zehn Tage lang versteckte sich die Englischlehrerin nachts in einem Keller. Ihre Eltern, 90 und 84 Jahre alt, weigerten sich, die Wohnung zu verlassen, die sich die drei teilten.

Flucht aus Charkiv

Sie rieten ihr, aus Charkiv zu fliehen, würden aber selbst auf jeden Fall bleiben. Aber wie? „Die wenigen Züge, die rausgingen, waren völlig überfüllt, ein Auto besaß ich nicht.“ Über Bekannte erfuhr sie von einer Gruppe junger Männer, die Menschen mit dem Auto nach Dnipro brachten, etwa 200 Kilometer entfernt. Wenige Tage später kam dann der unerwartete Anruf, dass sie in einer Viertelstunde abgeholt würde.

„Ich umarmte meine Mutter, küsste die Hände meines Vaters.“ Sie weint, während sie davon erzählt. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich mich schuldig fühle, weil ich mich in Sicherheit bringe und sie zurücklasse. So empfinde ich das bis heute.“

Drei Tage blieb sie in Dnipro, untergebracht in einem provisorisch aufgebauten Camp. Dann kamen die Bomben auch dorthin. Nataliias Flucht ging weiter, diesmal mit dem Zug nach Lviv, in den Westen des Landes. 14 Stunden in einem vollgepackten Abteil mit Frauen und Kindern. Kaum jemand sprach, alle waren zu erschöpft. Doch Lviv war ebenfalls bereits überfüllt mit Flüchtenden. Also nahm sie einen Bus nach Warschau, in dem noch ein einziger Platz frei war. „Ich werde nie vergessen, wie die Kinder im Bus ständig fragten, ob sie auch getötet würden.“

Besonders vermisst sie ihre Eltern

In Polen erreichte sie die Nachricht eines alten Freundes, dass sie zu ihm nach Köln kommen könne. Endlich ein Ziel. „Die ersten sechs Monate habe ich fast nur geschlafen und geweint, mir Sorgen um meine Familie gemacht“, erzählt sie. „Wenn ich wach war, las ich auf meinem Handy die Meldungen aus der ­Ukraine.“ Als es ihr besser ging, begann sie, Deutsch zu lernen. Noch unterhält sie sich lieber auf Englisch, auch wenn ihr Vater sie am Telefon zu überzeugen versucht, dass Deutsch doch gar nicht so schwer sei. Jeden Tag spricht sie mit ihren Eltern. „Aber ich mache keinen Video-Call. Sie aus der Ferne zu sehen könnte ich nicht ertragen.“

Sie lebe in Parallelwelten, erzählt sie. „Ich mag Köln. Die Menschen sind sehr freundlich hier. Aber ich habe nun mal über 50 Jahre in Charkiv gewohnt.“ Sie vermisst ihre Eltern, ihre Schülerinnen und Schüler. Sie schwärmt von ihrer Heimat, den Häusern im historischen Zentrum – heute ein Ort der Zerstörung.

Mehr spannende Texte lesen Sie in unserer Zeitschrift

Zur Zeitschrift

Zur Rubrik

Teilen