Zivilcourage zeigen
Beschreibung
Vor zwei Jahren fand der Terrorangriff der Hamas auf Israel statt. Seitdem sind antisemitische Äußerungen in der Gesellschaft noch lauter und heftiger geworden. Derviş Hızarcı kämpft gegen den Hass und bezieht Stellung
Leben jetzt: Sie sind Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie und gläubiger Muslim. Was hat Sie bewogen, sich gegen Antisemitismus zu engagieren?
Derviş Hızarcı: Das hat indirekt mit eigenen Erfahrungen von Diskriminierung zu tun. Nach dem 11. September 2001 haben Politik und Gesellschaft meine Generation kollektiv nur noch als Muslime gesehen, als wäre unser Glauben alles, was uns als Mensch ausmacht. Wir wurden – und das macht es besonders schlimm – als Gefahr betrachtet, die man abwehren muss. Das geht nicht spurlos an einem vorbei. Mich hat diese Erfahrung dazu gebracht, mich intensiv mit meinem Glauben auseinanderzusetzen, bei dem es viel um Gerechtigkeit geht. Deshalb engagiere ich mich für Toleranz und gegen Antisemitismus und Rassismus.
Lj: Es gibt unterschiedliche Definitionen von Antisemitismus. Was ist Ihre?
Hızarcı: Ich definiere ihn in erster Linie als Hass gegenüber Juden, weil sie jüdisch sind. Für mein Engagement gegen Antisemitismus erlebe ich auch oft antisemitische Anfeindungen. So können auch Menschen, die nicht jüdisch sind, von Antisemitismus betroffen sein.
Lj: Ist denn Kritik an Israel und der Politik des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu automatisch antisemitisch?
Hızarcı: Nein, ist sie nicht. Man darf die Politik Netanjahus kritisieren. Meiner Meinung nach ist das sogar ein demokratisches Gebot. Das Leid der Menschen in Gaza ist unermesslich. Hier muss gehandelt werden. Man muss aber auch auf den Kontext der Kritik achten und genau hinschauen, ob sich dahinter bestimmte Absichten verbergen. So kann sie als Deckmantel für grundsätzlichen Hass gegen Juden und Israel genutzt werden. Wenn solche Diskussionen hitzig werden, kommen oft Bemerkungen wie „Juden sind halt so“. Oder es folgt eine Täter-Opfer-Umkehr, und es wird gesagt, „die Juden machen jetzt das mit den Palästinensern, was die Nazis mit den Juden gemacht haben“ - so wird der Holocaust relativiert. Dann geht es eben nicht nur um notwendige Kritik an politischen Entscheidungen oder an Kriegsführung. Doch gerade in der Debatte um Israel und Palästina wäre es wichtig, verbal abzurüsten, Diskussionsräume zu schaffen, Widerspruch zu tolerieren – damit hier die Polarisierung zurückgedrängt wird, die unsere Gesellschaft bedroht, und endlich den Menschen in Gaza tiefgreifend geholfen wird.
Lj: In der Politik wird gern vom importierten Antisemitismus gesprochen.
Hızarcı: In der Bergpredigt steht: „Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht.“ Damit will ich deutlich machen, dass solche Behauptungen von dem eigenen Antisemitismus ablenken und Migranten zum Problem machen. Diese kollektiv als Problem darzustellen ist rassistisch. Aber wir können Antisemitismus nicht mit Rassismus bekämpfen. Das spaltet die Gesellschaft weiter und hilft niemandem, auch nicht der jüdischen Bevölkerung. Der Antisemitismus in Deutschland liegt seit Jahrzehnten bei etwa 20 Prozent, Tendenz gerade steigend. Bei israelbezogenem Antisemitismus haben wir sogar Werte über 40 Prozent. Antisemitismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und zu dieser Mitte gehören längst auch Muslime. Man kann sie auch in Bezug auf den Vorwurf des Antisemitismus nicht isoliert betrachten.
Lj: Sie setzen im Kampf gegen den Antisemitismus auf Bildung, bieten mit Ihrem Verein Workshops, Seminarreihen bis hin zu Fortbildungen für Lehrkräfte an. Wie erreichen Sie die Kinder und Jugendlichen?
Hızarcı: Grundsätzlich muss man eine emotionale Verbindung herstellen, sie respektieren, sich für sie als Menschen interessieren. Das heißt, sie nicht von oben herab zu belehren nach dem Motto: Das ist richtig und das ist falsch. So etwas funktioniert nämlich nicht. Kinder müssen sich vielmehr selbst auf den Weg machen und Antworten finden. Wir zeigen ihnen zum Beispiel, dass Vorurteile auf der Unterscheidung zwischen „uns“ und „den anderen“ basieren, wobei die eigene Gruppe erhöht und die andere abgewertet wird. Oder wir konfrontieren sie mit Zitaten und Pauschalisierungen, über die dann diskutiert wird. Das heißt auch, sich mit Gegenpositionen auseinanderzusetzen. Nur wenn eine Aussage oder ein Sachverhalt von allen Seiten beleuchtet wird, können Kinder zu einem wirklichen inneren Urteil kommen.
Lj: Was kann ich als Einzelner tun, wenn ich mit Antisemitismus konfrontiert werde?
Hızarcı: Wenn man Zeuge eines Zwischenfalls wird, kann man „Stopp“ rufen und dazwischengehen. Etwa fragen: „Was hat diese Person Ihnen denn getan?“, oder: „Finden Sie das fair, was Sie da machen?“ Konfrontieren! Das braucht Mut. Aber Zivilcourage zeigen heißt auch immer, sich ein Stück weit in Gefahr zu begeben. Wichtig ist vor allem auch, der betroffenen Person beizustehen, ihr deutlich zu machen, dass man das mitbekommen hat und sie nicht alleine ist. Und man kann den Vorfall natürlich zur Anzeige bringen. Auf Facebook oder Instagram wiederum kann man Kommentare posten, wenn Ressentiments gegenüber Juden geäußert werden. Und sei es nur, indem man ein Fragezeichen schickt oder mit „Ist das Ihr Ernst?“ antwortet.
Zur Person
Derviş Hızarcı ist Vorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) und sitzt im Beratungskreis des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Für sein Engagement bekam der ehemalige Lehrer die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland.