Erstellt von Roger Tinner

Ein Steyler Hilfezentrum für Kinder mit Einschränkungen in Ghana

Ein Steyler Hilfezentrum für Kinder mit Einschränkungen in Ghana
Ein Steyler Hilfezentrum für Kinder mit Einschränkungen in Ghana

Zeit zum Spielen: Der kleine Divine (links) wurde einfach im Krankenhaus zurückgelassen, aber einige Zeit danach von einer Ghanaerin adoptiert.| Foto: SVD, Matthias Helms

Orthopädisches Trainingszentrum? Das klingt nach Technik. Dabei geht es an diesem Ort in Ghana um das Leben – und vor allem um das von Kindern. Das Zentrum unterstützt sie dabei, so gut wie möglich ihren Weg zu finden

Ein Montagmittag im Mai. Ich sitze auf einer Parkbank am Fuss eines Schweizer Ausflugsbergs im Appenzellerland. Vor mir ein Kinderspielparadies mit Teich, Sand, Kletterpark und Sommerrodelbahn. Die Terrasse des Restaurants ist offen, daneben ein lebhaftes Durcheinander: Dutzende von gesunden Kindern zwischen Baby- und Schulalter geniessen den windig-kühlen, aber sonnigen Tag. Eltern holen etwas zu essen, spielen mit und tragen Maske. Es ist Pandemie.

Pandemie ist auch in Ghana. Auf dem Bildschirm meines MacBooks auf meinen Knien erscheint Schwester Elizabeth („Liz“) Newman. Sie sitzt in ihrem Büro im „Orthopedic Training Centre“ (OTC), dessen Direktorin sie ist. Sie spricht mit mir via Zoom aus Nsawam, einer Kleinstadt mit etwa 50.000 Einwohnern im Süden Ghanas, etwa 40 Kilometer nördlich der Hauptstadt Accra gelegen. Auch hier herrscht lebhaftes Durcheinander – noch dazu bei Temperaturen über 30 Grad. Ich weiss, dass auch am OTC Kinder miteinander spielen. Es verbindet sie die Freude am Spiel auf der Wiese, aber auch ihr Schicksal: Sie alle sind körperlich eingeschränkt, haben seit Geburt oder wegen Unfällen keine Schienbeine mehr, ihnen fehlt ein Fuss, der Unterarm oder ein anderes Körperteil.

Ein Steyler Bruder stand am Anfang

Seit 1961 kümmert sich das OTC um Erwachsene und Kinder, die Operationen, orthopädische Hilfsmittel und Therapien benötigen. Auch damals löste in Ghana ein Virus viel Leid aus: das Polio-Virus verursachte Kinderlähmung und damit einen Grossteil der körperlichen Einschränkungen, die hier behandelt­ wurden. Gegründet hat das Zentrum der Steyler Bruder Tarcisius de Ruyter, der aus einer Schuhmacherfamilie stammte und eine orthopädische Fachausbildung absolviert hatte. 13 Jahre später war Schwester Elizabeth eine der fünf ersten Schwestern der „School Sisters of Notre Dame“ (SSND), die damals ins Land kamen. Ein Jahr hat sie in einer Schule gegenüber vom OTC unterrichtet, das sie immer wieder besuchte. Ihr Vater war ein Kriegsversehrter, sodass sie den Umgang mit Behinderungen schon kannte. Und so wurde sie zunächst Co-Leiterin, später Nachfolgerin von Bruder Tarcisius, von dem sie bis heute mit großer Hochachtung spricht.

Lange Zeit bestand das OTC aus orthopädischer Klinik und Werkstatt – in der fast 90 Prozent der orthopädischen Hilfsmittel für ganz Ghana gefertigt wurden –, einer Kinderabteilung und einer mobilen Einheit. Ein Jahr vor dem Tod des Gründers wurde ausserdem ein College zur Ausbildung von Prothesen- und Orthopädie-Spezialisten eröffnet. „Wir müssen unsere Mitarbeitenden in Technik und Physiotherapie ständig auf den neuesten Stand bringen, zum Teil müssen sie in Wochenendkursen Abschlüsse erlangen, die seit Neuestem gefordert sind“, erzählt mir Schwester Elizabeth via Zoom.

Die Kinder stehen im Mittelpunkt

Im Januar dieses Jahres war P. Matthias Helms, Leiter der Steyler Missionsprokur in der Schweiz, zu Besuch beim OTC. Er war selbst 20 Jahre lang als Missionar in Ghana tätig. Das OTC leiste hervorragende Arbeit, erzählt er mir in einem Gespräch. Eines der Bilder, die er bei seinem Besuch machte, zeigt den vierjährigen Kobe: „Ich habe gesehen, wie der doppelamputierte Junge mit Freude und Lebenslust über den Rasen lief und mit den anderen Kindern spielte“, erinnert er sich.

Im Mittelpunkt stehen grundsätzlich alle Kinder, die Unterstützung brauchen – egal, was ihnen fehlt. So hat das OTC vor ein paar Jahren in der Nachbarschaft auch noch eine Tagesstätte für zerebral gelähmte Kinder eingerichtet – nachdem Schwester Elizabeth und ihre Mitarbeitenden festgestellt hatten, dass diese Kinder zu Hause eingesperrt lebten. Sie korrigiert jedoch gleich ein mögliches Vorurteil: „Es ist nicht so, dass die Eltern sich hier nicht um ihre Kinder kümmern. Es ist die Armut, die sie daran hindert, das zu tun.“ Und das OTC setzt alles daran, dass nötige Operationen, Hilfen und eine gute Bildung jedem Kind zugutekommen.

Die Warteliste für Operationen ist lang

Statt wie sonst 40 bis 50 Kinder leben derzeit, aufgrund der Pandemie, nur ein Dutzend im OTC. Sie hatten keinerlei Möglichkeit, zu einer Familie oder anderswohin zu gehen: „Wir mussten die meisten nach Hause schicken, weil wir keine Probleme mit Covid-Infektionen verursachen wollten“, erklärt Schwester Liz in unserem Gespräch. In dieser Pandemie-Zeit versorgte das OTC dank der Steyler Nothilfe aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auch Kinder und Familien in der Gegend mit Lebensmitteln. In normalen Jahren kommen zweimal im Jahr Orthopädie-Ärzte aus den Niederlanden ins Zentrum. 2020 und jetzt, im April 2021, ging das nicht. Nächster Termin ist der kommende November. Im Moment stehen deshalb fast 70 Kinder auf der Warteliste für Operationen – und ohne Operationen gibt es keine Rehabilitation im OTC.

Schwester Elizabeth ist seit mehr als vier Jahrzehnten beim OTC. „Was motiviert Sie jeden Tag?“, frage ich sie, und ihre Antwort ist so einfach wie überzeugend: „Ich verbringe jeden Tag mit den Kindern. Und wenn man ein Kind sieht, wie es kommt und wie es dann wieder geht, dann sieht man ein anderes Kind.“ Der Gesellschaft, den Eltern und den Kindern gibt das OTC die Botschaft mit: „Auch Kinder ohne Arme und Beine sind fähige und liebenswerte Menschen.“

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Links: Fröhlich, trotzdem: Kobe ist vier Jahre alt und lebt im Zentrum.

Rechts: Zwei Brüder und eine für Afrika nicht untypische Geschichte: Sie saßen mit ihrer Mutter auf einem Lastwagen. Als der einen Unfall hatte, verloren beide je ein Bein. | Foto: SVD, Matthias Helms

Das OTC in Ghana unterstützen

Weil das OTC in Ghana den Kindern und Erwachsenen unabhängig von deren Einkommen hilft, ist es auf die Unterstützung durch Spenden angewiesen. Die Steyler Nothilfe, von den Missionsprokuren Deutschland, Österreich und Schweiz in der Covid-Pandemie aktiviert, unterstützt das Projekt. Susanne Pell von der Missionsprokur Österreich lobt die OTC-Arbeit sehr: „Hier ist es gelungen, eine Mission und einen Geist zu entwickeln, der in einer Institution weiterlebt, die – im wahrsten Sinn des Wortes – Hand und Fuß hat. Das OTC zieht die helfenden Hände an, bildet aus, fördert und lässt sie zum Wohl aller Beteiligten auch wieder weiterziehen. Dieser fruchtbare Austausch betrifft die Leitung, die Schule, die Werkstätten, die Behandlungsteams, die Patienten – und nicht zuletzt die Förderer.“ Nun geht es insbesondere um bauliche Erweiterungen und die Sicherstellung des mobilen und stationären Angebots.

Falls Sie spenden wollen:
Vermerk „Leben jetzt – OTC“

Missionsprokur Deutschland
IBAN DE77 3862 1500 0000 0110 09

Missionsprokur Österreich
IBAN AT26 2011 1800 8068 0800

Missionsprokur Schweiz
IBAN CH16 0900 0000 9001 3192 2

Falls Spendenbescheinigung gewünscht, bitte Adresse angeben

Wie ging es weiter?

Wie ist es dem OTC in Ghana nach diesem Bericht ergangen? Das erfahren Sie hier.
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