Erstellt von Ulla Arens

Die Kraft der Rituale

Die Kraft der Rituale
Die Kraft der Rituale

Das Anzünden des Adventskranzes ist für viele Menschen ein regelmäßig praktiziertes Ritual. | Foto: Westend61/GettyImages

Advent, Weihnachten, Taufe, Hochzeit – Rituale geben unserem Alltag Struktur. 'Leben jetzt'-Redakteurin Ulla Arens wollte wissen, warum sie so wichtig sind.

Selbst am herrlichsten Sommertag ertappe ich mich dabei, dass ich mich auf den Dezember freue. Die Sehnsucht hat ihre Wurzeln in meiner Kindheit. All diese feierlichen Momente: das Anzünden der Kerzen auf dem Adventskranz, das Putzen der Schuhe für den Nikolaus, das kleine Stück Schokolade aus dem Kalender am Morgen. Ich fühlte mich an diesem magischen Weihnachtsabend meiner Familie besonders nah.

Eigentlich kein Wunder. „Ohne Rituale zu leben wäre trostlos, ärmer, vielleicht sogar unmöglich“, sagt der Steyler Pater Thomas Heck SVD. Für den Ritualforscher und Religionswissenschaftler Professor Axel Michaels sind Rituale untrennbar mit dem menschlichen Leben verflochten. „Die Neigung,  sie zu entwickeln und zu leben, ist dem Menschen angeboren. Er braucht Rituale, denn er braucht Besonderes. Dementsprechend gibt es Rituale in allen Gesellschaften. Sie sind es, die Kultur ausmachen.“

Ein Ritual ist kein Wohlfühl-Event

Viele Rituale haben religiösen Charakter – aber auch Preisverleihungen, Ehrungen, Geburtstage oder die Vereidigung eines Staatsoberhaupts gehören zu den Ritualen. Sie sind in erster Linie eine Gruppenerfahrung. Eine, wie Pater Thomas Heck es formuliert, „verdichtete Form von Begegnung, eine in Form gegossene Beziehungshandlung“. Sie beschwören die Gemeinschaft, geben Heimat.

Eine besondere Bedeutung haben Rituale bei Übergängen im Leben. „Sie würdigen Neubeginn und Abschied und helfen, mit den damit verbundenen Unsicherheiten und Ängsten besser fertigzuwerden“, sagt der Psychologe Professor Dieter Frey („Psychologie der Rituale und Bräuche“, Springer, 29,99 Euro). Wohlfühl-Events sind Rituale jedenfalls nicht. Sie fordern unsere bewusste Teilnahme, sonst bleiben wir Zaungäste. Für einen Teenager etwa, der an Weihnachten eigentlich lieber mit den Freunden unterwegs wäre, wird Heiligabend eher eine trostlose Veranstaltung sein.

Rituale bleiben lebendig, wenn sie sich ändern

Doch man kann einem festlichen Anlass wieder neue Kraft verleihen, wenn man dessen Rituale ändert. Dabei bleibt der feste Rahmen erhalten, die Inhalte aber sind neu. „Nur so bleiben Rituale lebendig“, sagt Pater Heck. Das zeigt sich oft bei den ersten Weihnachtsfesten einer jungen Familie. Frau und Mann bringen ihre aus der Kindheit vertrauten Rituale mit, gemeinsam schaffen sie daraus ein eigenes Drehbuch.

Grundsätzlich sei es wichtig, dass eine Familie Rituale hat und sich dafür Zeit nimmt, findet Professor Frey. Auch alltägliche Handlungen können zu einer Art Ritual werden: wenn man Mahlzeiten mit einem Gebet beginnt oder einer Reflexion, wofür man dankbar ist. „Je mehr Rituale entstehen, umso besser funktioniert die Familie, umso stärker ist der Zusammenhalt“, so der Psychologe.

Mehr zu Ritualen und ihrer Bedeutung erfahren Sie in unserer Zeitschrift.

Zur Rubrik

Hochzeit mit Hindernissen

In meiner niederösterreichischen Heimat ist eine bäuerliche Hochzeit ein Fest voller Rituale. Der frühe Morgen beginnt mit Böllerschüssen. Der Weg der Braut zur Kirche wird von den Burschen des Dorfes abgesperrt und muss vom Brautführer „freigekauft“ werden. Nach der kirchlichen Trauung wird die Braut entführt, gesucht und natürlich gefunden. Die Feier im Gasthaus beginnt mit einer symbolischen Prüfung: Der Bräutigam bekommt ein Holzmesser, mit dem er einen Laib Brot zerteilen muss. Die Braut muss aus zwei Gläsern – eines voll Wein, eins mit Seifenwasser - das richtige wählen. Am Ende der Mahlzeit spielen Nachbarn, die heimlich entwendete Kleider der Brautleute und deren Familien tragen, Szenen aus deren früheren Leben vor. Und die Männer wetteifern beim Gstanzl-Singen. Gegen Mitternacht klettert die Braut über den Tisch, tanzt mit dem Brautführer, der ihr dann Schleier und grünen Kranz abnimmt und sie an den Bräutigam übergibt. Erst dann sind sie „richtig“ verheiratet.

Pater Christian Tauchner SVD

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